Reinhold Wuerth
Prof. Dr. h. c. mult. Reinhold Würth

Vorsitzender des Stiftungsaufsichtsrats der Würth-Gruppe, Ehrenvorsitzender des Beirats der Würth-Gruppe. (Foto: © Frank Schemmann / www.schemmann.com)


 

Sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Leserinnen und Leser,

die Würth-Gruppe befindet sich im Eigentum der Würth-Familienstiftungen. Als Stiftungsaufsichtsratsvorsitzender bin ich gebeten worden, einen Beitrag zum Geschäfts­bericht der Würth-Gruppe über das Geschäftsjahr 2017 zu verfassen.

Zunächst ist es auch mir ein Anliegen, mich im Namen des Stiftungsaufsichtsrats bei den 74.000 Mitarbeitern der Würth-Gruppe für das wunderbare Ergebnis des Geschäftsjahrs 2017 zu bedanken. Sowohl beim konsolidierten Außenumsatz als auch beim Betriebs­ergebnis konnten neue Rekorde erwirtschaftet werden, ein Beweis dafür, dass Würth auch nach 72 Geschäftsjahren von seiner Jugendlichkeit und Dynamik nichts verloren hat.

Ich selbst befinde mich im 83. Lebensjahr und schaue mit großer Dankbarkeit auf meinen Lebensweg zurück. In der Wirtschaftsgeschichte eher ungewöhnlich ist das Phänomen, dass ich die Entwicklung der Würth-Gruppe vom ersten Tag an über mehr als 72 Jahre lang beobachten, begleiten und gestalten konnte. Diese Unter­nehmensentwicklung verlief sicher überdurchschnittlich erfolgreich, ­jedoch in ­einem politischen und technischen ­Umfeld, das innerhalb dieser 70 Jahre mehr Um­wälzungen und technologische Entwicklungen gebracht hat als in den 500 Jahren Neuzeit davor.

Mein Vater Adolf gründete seine Schraubengroßhandlung nur vier Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich selbst habe diese Zeit als 10-Jähriger miterlebt und unglaublich plastisch noch vor meinen Augen: Am 29. Mai 1945 durfte ich ­meinen Vater begleiten, als er mit einem zweispännigen Kuhfuhrwerk mit Holzspeichen­rädern und Eisenbereifung zusammen mit Bauer Dümmler aus Kün­zelsau von hier in die 15 km entfernte ­Schraubenfabrik Arnold nach Ernsbach fuhr, um dort die ersten Schrauben einzukaufen. Für mich ein ­echtes Spektakel! Gleich half ich dem Vater dann die Schrauben in einem Nebenraum der Schloss­mühle in Künzelsau ins Regal einzusortieren.

Insofern kenne ich die Entwicklung des Unternehmens vom ersten Tag an, begann vier Jahre später, 1949, als 14-Jähriger offiziell die Lehre beim Vater bis 1952. Als 1954 der Vater nur 45-jährig an einem Herzinfarkt verstarb, war ich 19 Jahre alt und hatte trotz aller ­Trauer das große Glück, von ihm eine umfassende strenge Lehre und Ausbildung genossen zu ­haben. Mit zwei Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 146.000 DM (1954) startete ich dann ins Jahr 1955, das ich mit 176.000 DM Jahres­umsatz und einer Umsatzsteigerung von 20,5 Prozent abschließen konnte.

Die Zeit zum Ausbau des Unternehmens war günstig: Das Land war zerstört, für den Wieder­aufbau wurden Befestigungsteile ohne Ende gebraucht, sodass oft der ­Einkauf schwieriger war als der Verkauf der Ware. 1962 gründete ich die erste ­Auslandsgesellschaft in den Niederlanden, kurz darauf in der Schweiz, in Italien und Österreich.

Inzwischen ist nun aus diesem 2-Mann-Unternehmen ein großer Mittelstands­betrieb mit über 74.000 Mitarbeitern geworden und ich muss gestehen, dass ich manches Mal, wenn ich morgens in Künzelsau auf den Betriebscampus fahre und die ganze Anlage sehe, auch den Kopf schütteln muss, was aus diesem kleinen Unter­nehmen in knapp drei Generationen geworden ist.

Gegen Ende meiner Lebenszeit erfüllt mich Dankbarkeit, dass ich das Unternehmen Würth in verschiedenen Positionen im 69. Berufsjahr begleiten darf. Lügen würde ich, wenn ich nicht zugeben würde, ein bisschen stolz zu sein auf das Erreichte, wobei mir klar ist, dass ohne diese treuen und loyalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in all den Jahrzehnten die Entwicklung unmöglich gewesen wäre – aber auf der anderen Seite erlaube ich mir die Frage, ob das Unternehmen ohne meine Mitwirkung so weit wäre, wie es heute ist.

Natürlich werde ich am Rande von Vorträgen, Veranstaltungen und Begegnungen immer wieder gefragt: „Würth, was würdest du denn heute anders machen, als es in der Realität ging?“ Ich antworte dann: „Eigentlich würde ich kaum etwas anders m­achen – immerhin bin ich heute im 62. Jahr mit meiner lieben Frau Carmen ver­heiratet und ich bin unserem lieben Gott dankbar, dass er uns diese lange gemein­same Zeit gewährt und uns die Beständigkeit der Kontinuität ermöglicht hat.“

Meiner Frau bin ich von Herzen dankbar, dass sie unsere drei Kinder weit über­wiegend aufgezogen hat und heute der Mittelpunkt der wachsenden Familie ist mit fünf Enkelkindern und schon einer Urenkeltochter.

Diesen Aufsatz schreibe ich im Dezember 2017. Deutschland hat nur eine geschäfts­führende Regierung, Extremismus (G20-Gipfel in Hamburg am 7. / 8. Juli 2017) von links, aber auch das verstärkte Wiederauftauchen von rechtsextremen Strömungen genauso wie die Angriffe auf die Einheitlichkeit der Europäischen Union werfen schon Fragen auf, wie die Jahre 2018 und folgende weitergehen werden.

Nun, ich habe ja auch die politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland von ­allem Anfang an miterlebt und sehe heute diese Attacken an den politischen Rändern eher gelassen. Wenn ich zurückdenke, welches Entsetzen es im Mittelstand gab, als 1969 Willi Brandt als SPD-Bundeskanzler erstmals eine rote Regierung führte: Die These ging etwa in die Richtung, jetzt wird alles enteignet. Als dann die grüne Partei erstmals ins Parlament einzog, war das Entsetzen genauso groß. Keine etablierte politische Partei wollte mit den Grünen auch nur reden. Am Ende stellte sich heraus, dass der Souverän, die Bürger bei den Wahlen doch kluge Entscheidungen gefällt hatten. Auch die jetzige Regierungskrise wird schnell überwunden werden, weil sich Deutschland mit seiner wirtschaftlichen Vormacht in Europa weder in der EU noch in anderen Gremien eine zu lange Entscheidungsabsenz leisten kann.

Jedenfalls ist heute angesagt, vor allem die junge Generation auf die Vereinigten Staaten von Europa einzuschwören und der Europäischen Union die vom so tüchtigen französischen Präsidenten Macron geforderten Erweiterungen zu genehmigen, nämlich vor allem einen europäischen Finanzminister und einen europäischen Finanz­haushalt einzurichten.

Will man diese Frage im Gesamtkontext richtig einordnen, hilft schnell ein Blick in die Vergangenheit. Laut Frau Google hatten wir auf dem Staatsgebiet des Deutschen Reichs 1790 1.800 unterschiedliche Zoll- und Währungsgebiete: Wenn man über das nächste Brücklein ging, war man praktisch schon Ausländer. Der kluge Schachzug Bismarcks, schon fünf Jahre nach Gründung des Norddeutschen Bundes 1866, in Paris das Deutsche Reich auszurufen, war nur möglich, weil er die damalige Schwäche der Südstaaten südlich der Mainlinie, also Badens, Württembergs und Bayerns genutzt und diese Länder genötigt hat, dem Deutschen Reich beizutreten. Es dauerte noch viele Jahre, bis trotz Existenz des Deutschen Reichs die württem­bergische, bayerische oder preußische Staatsbürgerschaft abgeschafft wurde und auf den Pässen dann Deutsches Reich stand. Verrückt, wie sich die Geschichte wieder­holt: Die Feinde des Norddeutschen Bundes, genauso wie die Widerständler gegen die Gründung des Deutschen Reichs, argumentierten genauso mit Heimatgefühl und Verlust der Identität, wie dies heute innerhalb der Europäischen Union der Fall ist.

Wollen wir es nun in einer Zeit der vier Weltmachtblöcke USA, China, Russland und Euro­päische Union wagen, diese sich so wunderbar entwickelnde Europäische ­Union zu ­zerreden, ­kaputt zu machen? Die dann übrigbleibenden europäischen Einzel­staaten würden gnadenlos von den drei anderen Machtblöcken malträtiert und im Extremfall sogar kassiert.

Die Europäische Union wird gar nicht anders können, als mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voranzugehen. Dass bei den im Moment so zäh laufenden Brexit-­Verhandlungen nicht am Ende das Vereinigte Königreich in einem EWR-ähnlichen ­Vertrag wirtschaftlich der Europäischen Union sehr eng verbunden bleibt, halte ich für sehr wahrscheinlich.

Die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei sollten den Weg der Demo­kratie nicht zu weit verlassen, um nicht am Ende die Milliarden-Zahlungen aus den EU-Töpfen zu verlieren. Übrigens ist gut zu erkennen, wie in den anderen drei Großmächten USA, Russland und China versucht wird, das Vorankommen der Europäischen Union zu behindern oder zu blockieren. Man will nicht, dass die Europäische ­Union auch ein weltpolitisch wichtiger monolithischer Machtblock wird. Beispiel China: Man hat den Hafen Piräus erworben und kündigt an, genau zu den Visegrad-Staaten eine schöne Autobahn bauen zu wollen, nicht ohne die Idee, die Ostflanke der EU zu erodieren und damit vielleicht sogar den russischen Einfluss zurückzudrängen. Nun, verehrte Leserinnen und Leser, bauen wir für unsere Kinder und Enkel die Vereinigten Staaten von Europa – die beste Heimatschutzmaßnahme, die man sich im Weltkontext denken kann.

Doch kehren wir von diesem Weltblick zurück zum Jahr 2018. Alle Wirtschaftsforscher erwarten ein weiteres Wachstum des Welthandels, auch des Handels innerhalb der Euro­päischen Union, sodass die Geschäftsaussichten für 2018 eigentlich exzellent sind.

Natürlich sind wir als Kaufleute gehalten, Chancen und Risiken, Vor- und Nach­teile, auch Unvorhersehbares zu evaluieren und unsere Entscheidungen so zu treffen, dass trotz aller ­Expansion die Sicherheit und der Fortbestand der Unternehmen und ­ihrer Arbeitsplätze nicht gefährdet werden. Als wichtigsten Grundsatz hat mich mein ganzes Leben die These begleitet: „WACHSTUM OHNE GEWINN IST TÖDLICH.“ ­Dieser Grundsatz hat sich bewährt, seit 22 Jahren erhalten wir von Standard & Poor‘s ein A-Rating. Wichtigste Aufgabe des Würth Managements in die Zukunft hinein wird bleiben, nicht überschaubare Risiken zu vermeiden und trotzdem das Gespür für Innovation und Risikokalkulation nicht zu verlernen.

Verehrte Leserinnen und Leser, Ihnen wünsche ich ein gesegnetes, erfolgreiches 2018.

Reinhold Würth